Es ist einer der Aufreger der aktuell laufenden Frauenfußball-WM. Verschossene Elfmeter wurden nochmals wiederholt, weil die Torfrauen zum Zeitpunkt der Ballberührung vor der Torlinie standen. „Elfer-Irrsinn“ titelte die Hamburger Morgenpost, „Die Bürokoraten haben übernommen“ meinte die Zeit.
Veröffentlichung im Journal "Frontiers in Psychology"
Der Lehrstuhl für Trainingswissenschaft und Sportinformatik der Technischen Universität München untersuchte in einer aktuellen Studie die Ausführung von Elfmetern. „Kein einziger von 618 Strafstößen wurde regelkonform ausgeführt“, sagt Dr. Otto Kolbinger. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Lehrstuhls für Trainingswissenschaft und Sportinformatik von Ordinarius Prof. Dr. Martin Lames publizierte hierzu mit Dr. Michael Stöckl (Universität Wien) einen Aufsatz in der Zeitschrift „Frontiers in Psychology“. Die reviewte Fachzeitschrift hat einen Impact Factor von 2.089.
„Wir untersuchen am Lehrstuhl unter anderem die Frage, wie Regeln in Sportspielen in der Praxis tatsächlich eingehalten werden und welche Verstöße dabei akzeptiert sind. Dafür haben wir das Konzept der ,Trivial Offenses‘ eingeführt“, erklärt Prof. Lames.
Problematik des "Kavaliersdelikts"
Stöckl und Kolbinger analysierten sämtliche Elfmeter der ersten Liga in Deutschland, Italien, England und Österreich sowie den DFB Pokal in den Saisons 2015/16, 2016/17 und zu Beginn der Saison 2017/18. Bei Strafstößen muss der Torhüter auf der Linie stehen, kein Spieler darf den Strafraum vorher betreten. Keiner der Strafstöße war regelkonform. „Dass die Torhüter nicht auf der Linie stehen, ist quasi ein Klassiker. Genauso, wie Spieler, die zu früh in den Strafraum laufen“, bilanziert Kolbinger. Nur in zwei Prozent der Fälle entschieden die Schiedsrichter formal korrekt. „Das sind die Situationen, in denen nur Verteidiger in den Strafraum laufen, der Schütze aber trifft. Hier ist es nach den Regeln korrekt, das Tor zu werten“, erklärt Kolbinger.
„Die Studie belegt, dass es weitverbreitete Regelverstöße gibt, die völlig akzeptiert sind“, erklärt Lames. „Es kann eigentlich zunächst einmal nicht im Sinne der Verbände sein, wenn Regeln nicht eingehalten werden. So entstehen quasi ,Kavaliersdelikte‘, die dann problematisch sind, wenn sie plötzlich doch eingefordert werden – wie bei der Frauen-WM. Dann werden die Schiedsrichter zu Buhmännern, die aber eigentlich nur die Einhaltung von Vorschriften überwachen. Wir empfehlen daher, solche ,Trivial Offenses‘ bestenfalls gar nicht erst entstehen zu lassen, sondern Regeln direkt anzupassen oder auf die Einhaltung zu drängen“, resümiert Kolbinger.
Zur Homepage des Lehrstuhls für Trainingswissenschaft und Sportinformatik
Zum Aufsatz in der Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“
Kontakt:
Dr. Otto Kolbinger
Lehrstuhl für Trainingswissenschaft und Sportinformatik
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24502
E-Mail: Otto.Kolbinger(at)tum.de
Text: Dr. Fabian Kautz
Foto: TUM