Mit Rollator gehen und samstags Klettern?
Es ist ein ungewohntes Bild – die Teilnehmer_innen von „MS on the Rocks“ kommen mit Gehhilfen oder im Rollstuhl in die Kletterhalle der TU München. Dort stehen samstags parallel zum regulären Betrieb eineinhalb Stunden Therapeutisches Klettern für Menschen mit MS auf dem Programm. Auch für Barbara Dietl-Pohr (57), die im Alter von 20 Jahren die Diagnose MS erhielt und im Alltag nur noch mit Hilfe eines Rollators gehen kann. Bei „MS on the Rocks“ trainiert sie mit anderen Betroffenen an der Kletterwand ihre Beweglichkeit, Ausdauer, Kraft und das Gleichgewicht. „Als mir das Therapeutische Klettern angeboten wurde, war ich zögerlich. Wie soll das möglich sein?“, berichtet sie. „Inzwischen bin ich 13 Jahre dabei und habe großen Spaß an der Bewegung. Meine Körperhaltung und mein Gleichgewicht haben sich verbessert. Außerdem habe ich mehr Kraft in den Armen, was mir im Alltag sehr weiterhilft, wenn ich mit dem Rollator unterwegs bin.“
Von Sport profitieren alle – auch Menschen mit MS
Weltweit leiden rund 2,8 Millionen Menschen an der Autoimmunerkrankung. Jedes Jahr erhalten rund 15.000 Patient_innen eine MS-Diagnose. Dies ist mit viel Unsicherheit verbunden, denn MS gilt als die Erkrankung der tausend Gesichter. Das heißt, dass sich kaum etwas über einen individuellen Verlauf vorhersagen lässt. Häufig treten irgendwann aber Bewegungsstörungen auf, so dass Betroffene zunächst auf Gehhilfen angewiesen sind und später auch auf einen Rollstuhl. Vielen fallen dann auch feinmotorische Tätigkeiten schwer, so dass sie eine Tasse nicht mehr eigenständig heben können oder Unterstützung beim Zähneputzen brauchen. Sie haben einen eingeschränkten Orientierungssinn, können nur schwer Gleichgewicht halten und fallen schneller hin. Infolgedessen isolieren sich Betroffene häufig auch sozial. „Wir wissen heute, dass regelmäßiger Sport nicht nur Gesunde fit hält, sondern dass auch Menschen mit MS profitieren“, erklärt Dr. Claudia Kern, die als Physiotherapeutin und Sportwissenschaftlerin an der TUM das „MS on the Rocks“-Programm leitet. „Regelmäßiges Training kann dazu beitragen, dass sich die Krankheitssymptome stabilisieren, Bewegungsabläufe, Gleichgewichtssinn und Orientierungssinn wieder verbessern. Der Kontakt mit anderen Menschen in einer Sportgruppe fördert zudem den sozialen Austausch und trägt zu mehr Lebensqualität bei und stärkt die Selbstwirksamkeit.“ Wichtig sei bei Menschen mit MS das Spüren der eigenen Grenzen, dass Sport jederzeit unterbrochen werden könne und dass Hilfe erreichbar sei, abhängig vom Stadium der Erkrankung.
Klettern stärkt Muskelkraft, Selbstwert und Lebensqualität
Das Angebot „MS on the Rocks“ gibt es an der TU München seit 2005. Zwischendurch wird es immer wieder wissenschaftlich begleitet. Die Daten zeigen: Das Klettern hat einen motorischen, psychischen und sozialen Nutzen für die Teilnehmer_innen. Zusätzlich zu einem Kraftzuwachs sind sie durch das Klettern insgesamt aktiver und gewinnen Selbstvertrauen, Mut sowie Sicherheit. Gleichzeitig wirkt sich das Klettertraining in der Gruppe mit anderen Betroffenen auch positiv auf psychosoziale Aspekte aus. So geben die Teilnehmer_innen an, dass es ihnen leichter fällt, mit anderen in Kontakt zu treten, dass sie sich sozial anerkannter fühlen, und dass sich das Klettern positiv auf ihre Stimmungslage und Lebensqualität auswirkt. „Wir werden nicht etwa die Wand hochgezogen, sondern klettern eigenständig“, erzählt Barbara Dietl-Pohr. „Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit.“ Voraussetzung für das Klettern ist, dass die Betroffenen in der Lage sind, eigenständig aus dem Rollstuhl herauszukommen. Für das Klettern spricht zudem, dass Verletzungen seltener sind als bei anderen gängigen Sportarten.
Appell: Mehr Rezepte für spezielle Sportprogramme
Bisher gibt es Therapeutisches Klettern bundesweit nur an wenigen Standorten. „Wir denken, dass es ein Projekt für Nachahmer ist“, sagt Prof. Dr. Renate Oberhoffer-Fritz, Inhaberin des Lehrstuhls für Präventive Pädiatrie und Dekanin der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften. „Die Vorteile sind so deutlich, dass mehr Betroffene davon profitieren sollten. Wo Klettern bisher nicht möglich ist, sollten sich Menschen mit MS nach anderen auf sie zugeschnittenen Sportangeboten umschauen. Über den Welt-MS-Tag hinaus lautet unser Appell an Ärzt_innen: Schreiben Sie Überweisungen für entsprechende Sportprogramme. Das ist doppelt so effektiv wie eine einfache Empfehlung, Sport zu treiben und fördert die Adhärenz.“
Zur Homepage von „MS on the Rocks“
Zur Homepage des Lehrstuhls für Präventive Pädiatrie
Kontakt:
Dr. Claudia Kern
Lehrstuhl für Präventive Pädiatrie
Connollystr. 32
80809 München
Tel.: 089 289 24692
E-Mail: claudia.kern(at)tum.de
Text: Gianna Banke
Fotos: "MS on the Rocks"/privat