Bluthochdruck ist der größte Risikofaktor für Sterblichkeit in Indien und wird mit schätzungsweise 1,6 Millionen Todesfällen durch Herzkrankheiten und Schlaganfälle pro Jahr in Verbindung gebracht. Aus diesem Grund wird in den Hypertonie-Leitlinien der indischen Regierung empfohlen, dass Ärzt_innen alle Erwachsenen in allen Phasen der Behandlung auf Bluthochdruck untersuchen sollten, unabhängig davon, wofür die Patient_innen ursprünglich behandelt wurden. Trotz dieser Richtlinie werden die meisten Inder_innen mit Bluthochdruck immer noch nicht diagnostiziert, was darauf hindeutet, dass Kliniker_innen nicht konsequent auf Bluthochdruck testen. Es wurde jedoch bislang nur begrenzt erforscht, wie konsequent sich Mediziner_innen in Indien an die Richtlinien für das Hypertonie-Screening halten.
Prof. Dr. Nikkil Sudharsanan, Leiter der Professur für Behavorial Science for Disease Prevention and Health Care, hat mit weiteren Wissenschaftler_innen aus den USA und Indien eine Studie durchgeführt, bei welcher untersucht wurde, inwiefern die Richtlinien für das Bluthochdruck-Screening von Ärzt_innen befolgt werden. Die Ergebnisse wurden nun unter dem Titel „Clinican Adherence to Hypertension Screening and Care Guidelines in Urban India“ im Journal „JAMA Network Open“ veröffentlicht. Die Fachzeitschrift hat einen Impact Faktor von 13,353.
Im Rahmen der Studie gaben sich lokale Erhebungsbeauftragte als Patient_innen aus, die an Schmerzen im unteren Rückenbereich litten (eine Erkrankung, die in keinem Zusammenhang mit Bluthochdruck steht), und besuchten 301 zufällig ausgewählte Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung in den beiden Städten Chennai und Kalkutta. Nach jedem Besuch berichteten die Beauftragten über die klinischen Maßnahmen, die sie von den Mediziner_innen erhielten. Gemäß den indischen Leitlinien wurde untersucht, ob die Ärzt_innen den Blutdruck überhaupt messen, ob sie den Blutdruck mindestens zweimal messen, ob sie der_m Patient_in die Messwerte mitteilen und ob sie bei einem Blutdruck von über 140/90 zu einer Nachuntersuchung raten.
„Wir nennen diesen Ansatz ein standardisiertes Patient_innen- oder 'Mystery-Shopper-Experiment', das als Goldstandard gilt“, erklärt Prof. Sudharsanan, Erstautor der Publikation. „Die Ärzt_innen dürfen nicht wissen, dass ihre Untersuchungen analysiert werden. Das Verfahren wurde bereits bei vielen anderen Studien eingesetzt, aber wir waren nun die Ersten, die es bei Hypertonie-Screening angewandt haben.“
Bei den 301 Besuchen wurde in 52 Prozent der Kliniken der Blutdruck der Patienten mindestens einmal, in nur sieben Prozent der Kliniken mindestens zweimal gemessen. Bei nur knapp über der Hälfte (55%) der Besuche wurden die die standardisierten Patient_innen, bei welchen der Blutdruck gemessen wurde, auch über die Messergebnisse informiert. Die Versuchspersonen hatten bei 19 von 157 Besuchen (12,1%), bei denen der Blutdruck gemessen wurde, einen erhöhten Blutdruck. Bei nur etwas über einem Viertel (26%) der Besuche rieten die Ärzt_innen zu einem Folgetermin.
Privatpraxen maßen den Blutdruck mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit mindestens einmal (77%) im Vergleich zu öffentlichen Einrichtungen (25%). Unabhängig von der Messung erhielten zudem männliche Patient_innen (75%) eher eine Information über ihren Bluthochdruck als weibliche (43%).
Grundsätzlich konnte festgestellt werden, dass die Ärzt_innen die Richtlinien für das opportunistische Hypertonie-Screening nur in geringem Maße befolgen. Laut Richtlinie sollte bei allen Erwachsenen der Blutdruck bei einem Praxisbesuch gemessen werden, jedoch erfolgt ein Screening tatsächlich nur bei etwa der Hälfte der Konsultationen. Zudem gab es Hinweise auf eine defizitäre Kommunikation der Ergebnisse. Diese Befunde deuten darauf hin, dass Bluthochdruck in städtischen Bereichen in Indien wahrscheinlich deutlich unterdiagnostiziert ist, weil die Mediziner_innen wesentliche Screening-Maßnahmen häufig auslassen.
„Bei den Leitlinien handelt es sich um eine wichtige gesundheitspolitische Maßnahme“, so Prof. Sudharsanan. „In Indien wird Bluthochdruck grundsätzlich jedoch zu selten diagnostiziert. Nachdem indische Erwachsene häufig Arztpraxen aufsuchen, hatten wir eigentlich erwartet, dass die Erkennungsraten viel höher sind.“
Die Studie legt nahe, dass Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung direkt auf eine Verhaltensänderung der Kliniker_innen abzielen müssen. Herkömmliche Ansätze wie finanzielle Anreize und Sanktionen sind in Indien aufgrund begrenzter Ressourcen, Aufsicht und Regulierung möglicherweise schwer umzusetzen. Daher könnten Maßnahmen wie klinische Unterstützungssysteme, die Verlagerung von Aufgaben und nicht-finanzielle Anreize wirksamer sein.
Zur Publikation „Clinician Adherence to Hypertension Screening and Care Guidelines in Urban India” im Journal „JAMA Network Open”
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Kontakt:
Prof. Dr. Nikkil Sudharsanan
Rudolf Mößbauer Professur für Behavioral Science for Disease Prevention and Health Care
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Tel.: 089 289 24990
E-Mail: nikkil.sudharsanan(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
Fotos: „JAMA Network Open”/privat