Zum 1. Januar 2023 ist die letzte Reformstufe des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG), in Kraft getreten. Durch das BTHG wurde die Eingliederungshilfe zum 1. Januar 2020 aus dem System der Sozialhilfe herausgelöst und grundlegend reformiert. Das neue Gesetz soll Menschen mit Behinderungen zu mehr Teilhabe und individueller Selbstbestimmung verhelfen. Eingliederungshilfeleistungen sollen sich mithilfe eines personenzentrierten Ansatzes am individuellen Bedarf der Menschen mit Behinderungen orientieren.
Prof. Dr. em. Elisabeth Wacker, ehemalige Inhaberin des Lehrstuhls für Diversitätssoziologie, hat als Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für den Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen maßgeblich an der Reform des Gesetzes mitgewirkt. Im Interview spricht sie unter anderem über die Besonderheiten der neuen Gesetzgebung, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Umsetzung sowie Verbesserungen im Bereich der Bildung.
Frau Prof. Wacker, Sie sind Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats für den Teilhabebericht der Bundesregierung – inwiefern waren Sie auch in die Entwicklung des neuen Bundesteilhabegesetzes involviert?
„Meine Rolle war immer die der Wissenschaft. Ich habe einerseits den theoretischen Rahmen mitgeliefert, andererseits aber auch Kongresse besucht und Touren mit Minister_innen durch alle Bundesländer absolviert, um neue Konzepte vorzustellen. Wir reden über eine sehr lange Zeitspanne, in der ich deutlich machen konnte, warum etwas in eine bestimmte Richtung entwickelt werden muss und warum man gut beraten ist, sich mit dem Thema zu befassen. Schon während meiner Zeit an der Universität in Tübingen konnten wir eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung gründen, mit dem Ziel, zu erforschen, wie sich die Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigungen verbessern lässt. Dort haben wir auch an der großen Reform der Pflegeversicherungsgesetzgebung mitgewirkt. Während meiner Zeit an der Universität Dortmund habe ich dann sehr intensiv gemeinsam mit der Bundesregierung am Thema ‚Persönliches Budget‘ gearbeitet. Dahinter steckte die Idee, dass man keine Sachleistungen an die Menschen verteilt, sondern Geldleistungen, damit die Person ihr Leben ein Stück weit selbst gestalten kann. Eine weitere wesentliche Veränderung war der Gedanke, das Leistungssystem Eingliederungshilfe, mit dem Menschen passgenau und individualisiert unterstützt werden sollen, aus der Sozialhilfe herauszulösen. Dieses große Ziel ist nun mit dem neuen Gesetz erreicht worden.“
Welche Besonderheiten zeichnet das neue Bundesteilhabegesetz aus?
„Die Eckpunkte sind die Verschiebung der Akteure. Diejenigen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung benachteiligt sind, werden jetzt das Steuerrad in der Hand halten und die entsprechenden Entscheidungen für die Lebensführung treffen dürfen und auch sollen. Das ist eine erhebliche Veränderung. Diese Menschen müssen aber zugleich Optionen haben, etwas für ihre Lebensführung auszuwählen. Entsprechend muss sich nun auch das Anbieterprogramm verändern. Im Endeffekt ist es ein Leistungsdreieck. Auf der einen Seite sind die Leistungsnehmer, die nun sehr viel mehr Rechte und weniger Einschränkungen haben. Dazu kommen die Leistungsanbieter, die bei der Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen helfen und Angebote machen. Und dann gibt es noch die politische Seite, die über die Daseinsvorsorge in den Gemeinden verantwortet wird. Wir haben also gleichzeitig die Bundesebene, die einzelnen Ausformungen auf Landesebene und die einzelnen Menschen, die letztendlich ihr Leben dort führen, wo sie wohnen.“
Ist die Zusammenarbeit mit Leistungsanbietern nicht etwas bürokratisch?
„Das ist sogar hochgradig bürokratisch, deswegen beinhaltet das neue Gesetz auch eine Passung, die versucht, dieses Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Akteuren besser zu regeln. Schon bei der Ausgestaltung des ‚Persönlichen Budgets‘ wurde gesagt, dass es budgetübergreifende Leistungen geben muss, da sonst Einzelverhandlungen mit jedem potentiellen Anbieter geführt werden müssen. Jetzt gibt es eine geregelte Form, in der gewährleistet ist, dass sich die einzelnen Anbieter jeweils verständigen – und zwar auch mit den Personen selbst, die unter Umständen eine Assistenzperson zur Seite gestellt bekommen. In diesem Aushandlungsprozess wird für eine bestimmte Lebenszeit, in der Regel ein Jahr, festgelegt, wie der entsprechende Nachteilsausgleich ausgestaltet wird.“
Welche Auswirkungen hatte die COVID-19-Pandemie auf die Einführung und Umsetzung des neuen Gesetzes?
„Die Pandemie hatte einen doppelten Einfluss. Auf der einen Seite sind manche Dinge noch sichtbarer geworden. Wir konnten von Studien ableiten, dass pandemische Maßnahmen, die man sich theoretisch überlegt hat und auch konzeptionell schon wusste, auch für die Menschen so scharf geschaltet wurden, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihr Leben ausüben können. Im Vergleich zur restlichen Bevölkerung war hier eine Ungleichheit klar gegeben. Letztendlich hat das Gesundheitsamt die Regeln gesetzt und die Eingliederungshilfe war nicht mehr handlungsfähig, auch im Sinne ihres Kerngeschäfts. Aus diesen Prozessen muss man nun lernen und aufmerksamer werden. Die Begleitforschung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes hat zwar Fortschritte gemacht und kann auch präzisieren, an welchen Stellen man nachbessern muss, sie ist aber in eine gewisse Verzögerung geraten. Deswegen gibt es nun eine Verlängerung von zwei Jahren, in denen systematisch nachgeschaut wird, welche Wirkungen diese Gesetzesänderung hat.“
Ein Ziel des neuen Gesetzes ist die Verbesserung der Teilhabe an Bildung. Wie weit ist die Umsetzung bereits?
„Inklusion kann man unterschiedlich leben. Im Hinblick auf das Schulsystem sind die Debatten nicht besonders glücklich gelaufen. Die Bevölkerung sieht in ihrer Wahrnehmung der Inklusion nur die behinderten Kinder in der Schule. Dabei ist es ein grundsätzliches Umbauprogramm, wie die Gesellschaft organisiert werden soll. In der Schule läuft es recht schwierig und zögerlich, da alle Beteiligten mit einem großen Beharrungsvermögen gegen diese Art von Veränderung Vorbehalte haben – außer an den Punkten, an denen sie massive Vorteile sehen. Und diese Vorteile sind in der Regel Ressourcenzuwendungen. Eine inklusive Schule erhält beispielsweise Vorteile beim Klassenteiler oder der Ausstattung. Wir haben es hier eher mit einem sehr beharrenden System zu tun, auch über die Lehrplangestaltung, das sich nicht nur deswegen ändert, weil plötzlich Inklusion draufsteht. Die Universitäten sind hier flexibler. Im Vergleich zu den Schulen können sie Menschen unterschiedliche Leistungsgeschwindigkeiten zugestehen. Die Kursangebote sind eine Art modulares System, was es leichter macht. Die Schwierigkeit ist, dass Universitäten per se nicht für Einzelne und deren Gelingen Sorge tragen. Das gilt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Sorge muss sich aber vom System her darauf richten, dass sie nicht wegen ihrer Beeinträchtigung benachteiligt sind. Das wird bereits versucht, indem beispielsweise Prüfungszeiten verlängert und Konditionen hergestellt werden, die räumlich so ausgestattet sind, dass eine Sprachausgabe verwendet werden kann. Es wird versucht, die Zugänglichkeit zu verbessern, indem die Baulichkeit entsprechend barrierefrei umgestaltet ist. So bewegt man sich aufeinander zu.“
Wie weit ist Deutschland aktuell, was Teilhabe betrifft?
„Deutschland hat insgesamt eine schwierige Position. Die Zahlen der Menschen, die man weltweit als behindert anerkennt, sind extrem unterschiedlich. Es gibt keine einheitliche Erfassung, wer behindert oder wer beeinträchtigt ist. Weltweit geht man von etwa 14 Prozent aus, faktisch sind es aber wohl um die 20 Prozent. Unser Programm in Deutschland heißt ‚Bau die Benachteiligung ab‘, also tue alles dafür, dass diese Nachteile ausgeglichen werden. Je mehr Benachteiligungen im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen abgebaut werden, desto weniger Behinderung gibt es. Und je weniger Benachteiligungen stattfinden, desto weniger Ausgleiche muss man schaffen. Diese Investition führt dazu, dass durch den Ausbau der Barrierefreiheit Kosten gesenkt werden können, trotzdem aber die gleiche Passgenauigkeit für die einzelne Person vorhanden ist. Das System wäre aufgrund wachsender Zahlen sonst auch bald nicht mehr finanzierbar.“
Wie zufrieden sind Sie mit dem Status quo?
„Es geht in die richtige Richtung, aber auch bei beruflicher Eingliederung ist viel Veränderungsbedarf vorhanden. Es ist eben ein Geduldsprogramm. Glücklicherweise haben die politischen Parteien verstanden, um was es geht. An den gebauten Wirklichkeiten ändert sich auch nichts einfach mal schnell. Viele Leistungen im Bereich der besonderen Wohnangebote (die man bisher Heime genannt hat) stecken auch baulich in Strukturen, wie wir sie nicht wollen. Die Sozialgesetzgebung weist konzeptionell in die richtige Richtung, in der sozialgerichtlich geprüften Wirksamkeit liegen wir Jahre zurück. Der Gesetzgeber wird sich folglich aufgrund von gesammelten Erfahrungen weiterentwickeln müssen, auch dies dauert Jahre, in denen die Prozesse erst einmal stattfinden müssen. Zur Beschleunigung trägt aber die Wissenschaft bei, da sie Modellversuche durchführen kann. Dabei beobachtet man natürlich eine Wirklichkeit, wie sie stattfindet, aber sie kann eine Multiperspektive in Abwägung anbieten, für die rechtliche Seite, die in Deutschland kein Bremser ist.“
Vielen Dank für das Gespräch!
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Kontakt:
Prof. Dr. Elisabeth Wacker
Arbeitsgruppe Diversitätssoziologie
Georg-Brauchle-Ring 60/62
80992 München
Telefon: 089 289 24460
E-Mail: Elisabeth.Wacker(at)tum.de
Text: Romy Schwaiger
Foto: Astrid Eckert/TUM